Vorwort

von Jennifer Paulus, Mit-Studienautorin, Forschungsinstitut empirica für Jugend, Kultur und Religion der CVJM-Hochschule in Kassel

Die Ergebnisse der Sexualitätsstudie zeigen: Religiosität hat ambivalente Effekte. Hochreligiöse

  • haben häufiger stabilere Partnerschaften
  • sind beziehungszufriedener
  • sind stärker werteorientiert

Fallen aber gelebte Praxis und internalisierte Normen auseinander, entstehen Spannungen und Belastungen.

Kirchliche Bildungsarbeit und Seelsorge ist (auf)gefordert, beides zu berücksichtigen: Indem sie

  • positive Ressourcen von Religiosität stärkt
  • Räume für die Bearbeitung von Brüchen eröffnet
  • konstruktive Gesprächsformate kreiert, in denen Glauben, Werte und gelebte Sexualität im Dialog stehen und in denen Orientierung ohne Moralisierung angestrebt wird
  • gerade mit Jugendlichen sexualethische Fragen bespricht, ohne dass sie Angst vor moralischer Verurteilung haben müssen

Auch sexualisierte Gewalt in kirchlichen Kontexten ist Tatsache. Prävention und Aufarbeitung müssen sein, Schutzkonzepte erarbeitet und konsequent umgesetzt werden.

Jesus ruft seine Kirche auf, ein Ort zu sein, in dem wir uns gegenseitig als Glaubensgeschwister annehmen. Und gerade für diejenigen ein Schutzraum zu sein, für die in der Regel wenig Verständnis aufgebracht wird.

Das swk.swiss leistet mit ihren vielfältigen Angeboten seit Jahrzenten eine so wertvolle Arbeit in einigen dieser Bereiche! Vielen Dank euch dafür! 

Über die Studie

von Matthias Bischofberger, Jg. 1978, Verheiratet, Vater von vier Kindern zwischen 10 und 17 Jahren, Angestellt als Sexualpädagoge beim swk.swiss mit Abschluss: Fachperson sexuelle Gesundheit in Bildung und Beratung, BA in praktischer Theologie, Mitglied des Praxisbeirats der Sexualitätsstudie (2022 bis 2024)

«Sexuelle Einstellungen und Verhaltensweisen (hoch-)religiöser Christ:innen». So der etwas sperrige Studien-Titel, der dafür genauer aufzeigt, was überhaupt Gegenstand der Forschung an über 10’000 Teilnehmern aus dem deutsch-sprachigen Raum war.

Religiös oder hochreligiös definiert sich hier so: Religiosität ist so zentral innerhalb der Persönlichkeit verankert, dass sie sich auf alle anderen Lebensbereiche auswirkt. Man kann es anhand gewisser Befragungsergebnissen auch anders ausdrücken:

  • Etwa die Hälfte besucht eine Landeskirche oder die katholische Kirche, wobei die Landeskirchler die überwiegende Mehrheit stellt. Die andere Hälfte besucht eine evangelikale Freikirche, eine andere religiöse Gruppe oder ist in keiner Kirche. Hier ist die Gruppe der evangelikalen Freikirchler die weitaus grösste Gruppe.
  • Fast 90 % der Teilnehmer sagt, dass Gott oder etwas göttliches gelegentlich bis häufig in ihr Leben eingreift.
  • Alle beten, über 80 % mehrmals die Woche.
  • Etwa 80 % besuchen öfter einer Gottesdienst
  • Alle glauben, das Gott oder etwas Göttliches existiert, die meisten davon sehr stark.
  • Spannend: Etwa die Hälfte sagt aus, dass es nur eine wahre Religion gibt.

Man kann sich fragen, wie Christen darauf kommen, an mehr als eine wahre Religion zu glauben? Vielleicht, weil sie das Judentum auch als wahr bezeichnen? Wir wissen es nicht.

Bereits wird aber über die «Gültigkeit» der Studie diskutiert. Zum Beispiel, wer hat überhaupt an dieser Umfrage teilgenommen? Repräsentieren diese Teilnehmer «die Christen» wirklich? Und, sind es (ethisch) lautere Absichten, die die Studienautoren des «Forschungsinstitut empirica für Jugend, Kultur und Religion», oder der Sponsor SCM Verlag verfolgten?

Mein Tipp: Mache dir lieber selber ein Bild von der Sache, als dir von lauten Stimmen die Freude an der Lektüre nehmen zu lassen und dabei die Ernsthaftigkeit und Wichtigkeit nicht weniger Themen zu übersehen, die diese Studie zur Sprache bringt.

Ins Handeln kommen

Und mein spezielles Anliegen als Sexualpädagoge: Lass uns ins Handeln kommen. So wie es auch in der Tradition des Schweizerischen Weissen Kreuzes schon immer war – etwas tun, nicht nur reden. So gab es in der Vergangenheit unserer Vereinsgeschichte etwa Unterstützung für Teenager, die schwanger wurden, eine Material-Abgabestelle für Familien, Beratungsangebote, eine Ausbildung zum Coach um Paare ein Stück Weg begleiten zu können, um so ihre Beziehungen zu stärken. Dieser letztgenannte Bereich gibt es bis heute und heisst twogether (zu finden auf twogether.online/ch). Ebenfalls bieten wir aktuell sexualpädagogische Angebote für Schulklassen wie auch kirchliche Gruppen an.

Empfehlen möchte ich diesbezüglich das von uns frisch erstellte Heft «Sexualität thematisieren – mit Jugendlichen in Kirchen» (als PDF beziehbar auf www.swk.swiss/shop). Bitte mache Jugendverantwortliche deiner Kirche darauf aufmerksam und hilf so mit, dass Sexualität auf eine gute, altersgerechte, differenzierte, bewertungs- aber nicht wertefreie Art und Weise zur Sprache kommen kann. Von der Komplimenten-Übung über das Thema sexualisierte Umwelt bis hin zur abendfüllenden Ethik-Diskussion sind hier 15 vielerprobte Lektionen zu finden.

Ein Feedback zu einem Abend mit Inhalten aus diesem Material:

«Danke für das abwechslungsreiche und sehr spannende Programm, das du in unseren Teenager-Treff mitgebracht hast. Ich finde es sehr wichtig und gut, was ihr da für eine Arbeit leistet.» Jana Müller, Leiterin Teenie-Treff Zündi der ref. Kirche Meisterschwanden

Zurück zu Zielen und Inhalte der Studie

Die genauen Ergebnisse der Studie, in der «Vollversion» auch Frage um Frage, findet man frei zugänglich auf der Internet-Seite der CVJM-Hochschule: www.cvjm-hochschule.de/forschung/sexualitaetsstudie

Weiter unten stelle ich aus dem sehr umfassenden Material ein paar wenige Inhalte vor, die mir persönlich bei der Durchsicht wichtig wurden.

Erforschen wollte man:

  • Welche Grundverständnisse von Sexualität, sexuelle Selbstkonzepte da sind und wie sich diese auf das Verhältnis zum eigenen Körper und der sexuelle Zufriedenheit auswirken.
  • Welche sexualethische Einstellungen es gibt, speziell in Bezug auf Solosexualität, Sex ausserhalb der Ehe, Genderfragen sowie zu Homosexualität und sexueller Vielfalt.
  • Dann, welches sexuelle Verhalten praktiziert wird. Auch bezüglich sexuellen Fantasien, Praktiken der Solosexualität, Konsum von Pornografie, Paarsexualität, Kommunikation über Sexualität und Geschlechterdifferenzen.
  • Es wurden Zusammenhänge zwischen diesen Themenfeldern gesucht. Hier wurden auch die Gottesbeziehung, das Schriftverständnis, das Sündenverständnis, das Menschenbild sowie Annahmen zur Schöpfungsordnung und Reinheit/Heiligkeit miteinbezogen. Und untersucht, welche Spannungen und Dilemmata wahrgenommen werden und wie Leute damit umgehen.

Eine wichtige Querschnittsfrage bei allen diesen sechs Schwerpunkten war: Welche Rolle spielen Kirche und Gemeinde für die Sexualität von (hoch-)religiösen Christen?

Zum Beispiel werden in online zugänglichen Predigtserien grosser Freikirchen im deutschsprachigen Raum Sexualität und Sexualethik häufig thematisiert und dies stösst auf grosses Interesse. Auch die In den letzten Jahren öffentlich gewordene Vorfälle von sexualisierter Gewalt in Kirchen und Gemeinden sind ein großes Thema. Und es scheint inzwischen überall angekommen zu sein, dass es wichtig ist, gute Präventionsarbeit zu leisten. Sprachfähigkeit gilt hierbei als wichtiger Schutzfaktor. Im Kontrast dazu gaben in der empirica-Familienstudie (2017) weniger als die Hälfte christlicher Eltern an, offen mit ihren Kindern über Sexualität reden zu können.

Auch da bietet das swk.swiss Hilfe für Eltern und z.B. Leitungsteams in Kirchen, mit Vorträgen zu psychosexueller Entwicklung von Kindern («Natürlich über Sex reden») und Schulungen zum Thema «Prävention sexueller Missbrauch».

Der Wunsch der Studienautoren ist folgender: «Insgesamt ist es ein Anliegen der Studie, eine gute Datengrundlage zu schaffen, welche für versachlichte Debatten dienlich sein kann und somit auch über gängige sexualethische Gräben und Polarisierungen innerhalb des christlichen Feldes hinweg eine Basis für einen konstruktiven Dialog liefert.» Diesem Wunsch schliesse ich mich an.

Von konservativ bis liberal…

Überrascht hat mich, dass das Alter der Teilnehmer keinen Einfluss auf Einstellungen und Denkweisen zu Sexualität hat. Das Herkunftsland ebenfalls nicht (Deutschland, Schweiz, Österreich). Stark aber die (Selbst-) Einordnung in die Gruppen Richtung «konservativ» oder «liberal». Verschiedene «Denk-Lager» reihen sich entlang dieser Linie auf. Vielleicht logisch, aber doch erhellend. Und dass diese Linie auf allen Abschnitten fast gleichmässig «bewohnt» ist, wobei es Tendenzen bei den verschiedenen Denominationen gibt. Somit ist ein grosses Mittelfeld vorhanden. Wir sind als Christen mit unseren Einstellungen zu Sexualität breit aufgestellt.

In vielen sexualethischen Themen sind sich Christen einig, es gibt nur wenige an den extremen Rändern, auch wenn diese zuweilen gut zu hören sind. Andere Themen spalten die Christen des Öfteren in zwei Lager, wie Fragen zu Homosexualität.

Aber, abgesehen davon wie wir über solche Themen denken, ist mir etwas anderes wichtig, da es gerade unter jungen Leute zu verletzenden Verhaltensweisen untereinander führen kann. Nämlich, dass sexuelles Verhalten oder auch nur das «wie Denken» darüber, als Kriterium für den richtigen Glauben und in der Folge über: «Du gehörst dazu oder eben nicht dazu», gebraucht wird. Ich würde sagen, dazu missbraucht wird. Auf Grund von zwei Überlegungen meine ich missbraucht:

Erstens: Man stelle sich vor, man würde das auf andere Gebiete anwenden: «Du bist geizig, bezahlst den 10ten Teil deines Einkommens nicht an die Gemeinde», so gehörst du nicht dazu! «Du begrüsst den Fremden nicht mit offenen Armen, wie es die Bibel lehrt» also gehörst du nicht dazu! Bezüglich den Früchten des Geistes – «Du bist nicht freundlich genug, zeigst nicht genug Selbstbeherrschung…» und du gehörst nicht dazu? Die Kirchen wären ehrlicherweise – leer.

Zweitens: Diese Denkweise hindert uns, das Thema Sex zu bearbeiten als das Thema selbst. Es hindert uns, mit dem Thema konstruktiv, kontrovers oder auch nur mal unvoreingenommen umzugehen, weil in einem solchen Fall zu viel auf dem Spiel stehen würde (dabei sein oder nicht). Da wird man dann entweder unehrlich. Oder – man geht. Man kann auch sehr brav sein, darf aber nicht darüber ringen zusammen und diskutieren, auch mal andere Ansichten äussern, Zweifeln und gemeinsam an Überzeugungen arbeiten, diese untermauern oder entlarven. Zum Beispiel entlarven als allzu menschlich oder auch allzu kirchlich. Oder untermauern als aufbauend und als Gottes gutes Fundament z.B. für Beziehungen.

Mal ehrlich!

Ehrlich sein voreinander und uns in verschiedenen Lebensentwürfen grundsätzlich stehen lassen, das würde uns gut anhaften. Auch gerade den jüngeren Kirchenmitglieder gegenüber. Den Dialog suchen, Lebens-Geschichten und Hintergründe dazu teilen. Auch wenn die Gemeinschaft ein Ideal hochhält, ob in Schwarz (das ist Sünde) oder Weiss (so sollte es sein), gelebt wird es dann doch in vielen Grautönen. Und dies ganz sicher auch in deiner Gemeinde lieber Leser, liebe Leserin.

In den bei der Studie untersuchten Artikeln in Jugend-Zeitschriften wurde entdeckt:  Es werden extreme Biografien beschrieben – als ob es nur Enthaltsamkeit oder ein ausschweifendes Sexleben gäben würde. Über Menschen, die ihre Werte und ihr Handeln von ihrem Glauben an Gott, aus christlichen Werten ableiten und dabei ganz verschiedene Leben führen, wird dort eigentlich nie eingegangen. Genau dies wäre aber hilfreich. Vielleicht entwickeln wir Formate, um dies in unseren Kirchen zu fördern?

Dabei würden sicherlich auch unschöne Lebenskapitel erzählt werden: Das Bewusstsein, das sexuelle Gewalt statistisch gesehen ziemlich wahrscheinlich in der eigenen Kirche vorkommt, oder zumindest Kirchenmitglieder davon betroffen sind, ist eine der Herausforderungen, mit der junge (und natürlich auch ältere) Christen konfrontiert sind. Es auszuhalten, entsprechenden Geschichten zuzuhören, kann ein Teil ihrer Heilung sein. Aber wie gestalten wir das?

Ausblicke auf die Sexualpädagogik in Kirchen aufgrund der Ergebnisse der neuen Sexualitätsstudie

«Ins Gespräch kommen über Sex und Sexualität, auch in Kirchen. Auf eine offene, ehrliche und wertschätzende Art.»

So lautet der erstgenannte Vorschlag aufgrund der Ergebnisse der Sexualitätsstudie. Es stellt sich nur die Frage, wie wir zusammen das Thema bewegen können. Es kommt nämlich auf das «wie» an. Auf eine offene, ehrliche und wertschätzende Art, wäre wünschenswert (gewesen). Das zeigen auch die Interviews, die ergänzend zur Studie geführt wurden.

Ist eine niedrige Sprachfähigkeit da, oder wenig Raum für eine Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität vorhanden, wirkt sich dies aus: Es wird weniger Konkretes besprochen wie z.B. der Körper und seine Funktionen, Lustempfinden und ein Umgang damit, das Kommunizieren darüber oder die Gestaltung von Liebesbeziehungen, die selten ohne das Körperliche auskommen (wollen). Aus Scham oder einer Abwertung des Körperlichen gegenüber dem Geistigen, trifft man (nachweisslich) weniger Massnahmen in Bezug auf Verhütung oder betreffend gegenseitig einvernehmlichem Verhalten. Diese Themen sind schwierig anzusprechen, weil «es» ja klar ist – und dann hat man ja alle diese Probleme nicht. Dann muss man auch nicht reden über das Ziehen von Grenzen im körperlichen Miteinander oder darüber, was für Wünsche, was für Vorstellungen man von Sex hat oder ganz wichtig: wo Verletzungen vorhanden sind.

Das sind aber genau die Dinge, über die zu sprechen zu einem guten Zusammensein führen. Zu einem achtsamen Miteinander zwischen sich Liebenden und damit zu Beziehungen, die ohne Grenzüberschreitungen, ohne sexuelle Gewalt auskommen wollen. Zu einer liebevollen Beziehung, die das Gegenüber ganzheitlich achtet und ehrt. Und das wünsche ich mir und darf eines der Ziele von Sexual-Erziehung sein.

Ich wünsche uns allen viel Ehrlichkeit und Mut, um ins Gespräch zu kommen über Sex und Sexualität in unseren Kirchen. Auf eine offene, ehrliche und wertschätzende Art. Auf Augenhöhe, auch mit Andersdenkenden, weil wir alle auf Gottes gute Führung und Fürsorge angewiesen sind. Dazu zum Schluss Psalm 28,9:

«Herr, hilf deinem Volk! Segne uns, denn wir gehören zu dir. Führe uns wie ein Hirte, und sorge allezeit für uns!» 

Forschungsbericht
empirica Sexualitätsstudie

Die «Vollversion» der Studie ist frei zugänglich auf der Internet-Seite der CVJM-Hochschule:
www.cvjm-hochschule.de/forschung/sexualitaetsstudie