In der Ausgabe des SWK-Magazins «Rede Mitenand» 4/2025 ging es um das Thema «DankSager» und wir hatten in diesem Zusammenhang die grosse Freude, einen Gastbreitrag von dem promovierten Historiker Dr. Markus Spieker zu veröffentlichen. Elisabeth Schoft vom Fontis-Verlag hat aus seinem Buch «Crazy World» diesen Text zum Thema Dankbarkeit zusammengestellt. Lesen Sie hier den vollständigen Beitrag.

Wir leben im Zeitalter der Masslosigkeit. Doch was, wenn das rechte Mass nicht in Kontrolle, sondern in Dankbarkeit liegt? Wir haben immer mehr. Aber wer viel hat, dem fehlt umso schmerzlicher, was er noch nicht hat oder was er verlieren könnte. «Man bedarf weit grösserer Tugenden, das Glück zu ertragen als das Unglück», seufzte ein intimer Kenner des französischen Königshofs, François de la Rochefoucauld (1613–1680).

Aber wie kommt man vom «too much» zum «darf’s ein bisschen weniger sein»? Keine Frage: Wir müssen die Tugend der Mäßigung neu entdecken. Eine Waage, die jeden Menschen individuell auf das richtige Mass einpendelt, gibt es leider nicht. Stattdessen müssen wir Kopfarbeit verrichten, uns selbst innerhalb der passenden Koordinaten verorten.

Wer von Gier und Angst, von Lust und Sorge ganz verkrampft ist, dem helfen mentale Dehn-Übungen, besser D-Übungen.

D wie Demut.

D wie Dankbarkeit.

Demütigend wirkt die lebenskluge Einsicht, dass nichts so wichtig ist, wie es scheint – eingeschlossen uns selbst. Lauter kleine Rädchen im gigantischen Getriebe. «Was machen wir nur ohne dich?», heißt es bei jeder Abschiedsfeier eines altgedienten Kollegen. Antwort: einfach so weiter. Heute VIP, morgen vergessen, gilt auch für Mitglieder der High Society. «Ein Ruhmestitel leuchtet kaum eine Stunde; ein Buch altert in einem Tag», sagte François-René de Chateaubriand.

Ich selbst feiere mit meinem Buch «Crazy World» ein Jubiläum: Seit genau zwanzig Jahren veröffentliche ich alle paar Jahre eine Gegenwartsanalyse. Ich habe mir das, was ich vor zwei Jahrzehnten verfasst habe, noch einmal durchgelesen. Ich muss gestehen: Ich hatte jede Menge Déjà-vu-Momente. Ich hatte schon damals mehr Realismus in der Betrachtung der Dinge angemahnt. Und ich hatte eine Rückbesinnung auf christliche Werte und Glaubensinhalte empfohlen. Beide Impulse gefielen einigen Lesern. Eine Breitenwirkung ist jedoch nicht eingetreten.

Auch das macht bescheiden.

Staunen lernen – die Welt als Geschenk sehen

Der materielle Wohlstand ist in Westeuropa geradezu explodiert. Heutzutage gibt es für alle mehr Geld, mehr Freizeitoptionen und durchschnittlich doppelt so viele Lebensjahre, um beides zu geniessen. Das hat seine Schattenseiten, gibt aber auch Grund zur Dankbarkeit.

Wir Menschen haben es weit gebracht, seit wir vor etwas mehr als zehntausend Jahren sesshaft geworden sind.

Ich komme jedes Mal ins Staunen, wenn ich eine Reise mache: jeder Flughafen – ein Wunderwerk der Koordination. Jeder Hafen ebenfalls. Überhaupt die ganze Weltlogistik: Sie ist buchstäblich Quantensprünge von den Zeiten entfernt, in denen auf irgendeinem mesopotamischen Markt Kamele gegen Bronzemesser eingetauscht wurden. Viel Blut, Schweiss, Tränen sind seitdem geflossen. Wir stehen auf den Schultern von Milliarden von Vorfahren, die den Felsblock des Fortschritts qualvoll zu der Stelle hochgerollt haben, auf der wir stehen.

Danke dafür.

Als «Wachsamkeit der Seele, die darauf bedacht ist, das nicht verloren gehen zu lassen, was für sie einen ständigen Wert darstellt», hat Gabriel Marcel die Dankbarkeit umschrieben. Die Definition findet sich in seinem Aufsatz «Der Untergang der Weisheit» aus dem Jahr 1960. Undankbarkeit ist aus Sicht von Marcel Dummheit, und das «Vergessen […] ein Verstoss gegen die Treue».

Der Undankbare leugnet, wie viel Aufwand hinter manchen vermeintlichen Selbstverständlichkeiten steckt.

Ich kenne keine effektivere Methode, sich in Demut und Dankbarkeit zu üben, als über Gott nachzudenken und zu ihm zu beten. Welche Vorstellung ist schon selbstwertsteigernder, als sich seiner Abstammung als Gottesgeschöpf bewusst zu werden? Und was ist eine geeignetere Selbstüberschätzungsprophylaxe, als sich die Dimensionen der Gesamtschöpfung zu vergegenwärtigen – ein paar Hundert Milliarden Sonnensysteme, allein in unserer eigenen Galaxie, von der es wiederum genauso viele Varianten gibt.

Wenn ich meine Perspektiven geraderücken will, hilft mir tagsüber ein Gang in die Natur, nachts der Blick zum Sternenhimmel – und bei Tag und bei Nacht der Besuch im Museum.

«Man muss Gott Tag für Tag danken, dass er einen geschaffen hat, denn er hätte es ebenso bleiben lassen können», hat der Schriftsteller Julien Green (1900–1998) in sein Tagebuch notiert.

Ich habe angefangen, jeden Morgen mit dieser D-Übung zu beginnen.

Dieser Text von Markus Spieker ist dem Buch «Crazy World» des Autors entnommen, welches im Oktober 2025 im Fontis-Verlag erschienen ist.

Markus Spieker
Crazy World
Fontis-Verlag, 2025
Klappenbroschur, 263 Seiten
ISBN: 9783038483045
33.00 CHF

Zu beziehen unter: https://www.fontis-shop.ch/products/crazy-world