In der Ausgabe des SWK-Magazins «Rede Mitenand» 2/2024 ging es um das Thema «FrageSteller» und wir stellten die Frage: Steht der christliche Glaube für harte Erziehungsformen und Autorität? Das Team «inBindung» klärt mit seinem Podcast auf, gibt Wissen weiter und bezieht klare Stellung bezüglich Gewalt gegenüber Kindern.

Nachfolgend das vollständige Interview:

Natascha Hürlimann (NH): Wie ist «inBindung» entstanden und was möchtet ihr mit eurer Arbeit erreichen?

Julia: Als frischgebackene Mama begegnete ich vielen Unsicherheiten und entdeckte dann den Ansatz der bindungsorientierten Erziehung. Durch einen Artikel, den ich für eine Gemeinde schreiben durfte, meldete sich eine Mama bei mir. Wir begannen damit, uns auszutauschen und bald wuchsen wir zu einer fünfköpfigen Gruppe an Mamas heran, die sich via WhatsApp-Gruppe über bindungsorientierte Erziehung austauschten. Auch unsere Gottesbeziehung war immer wieder Thema. Eine der Mamas ist inzwischen ausgewandert, deshalb sind wir nur noch zu viert.
Der Ansatz von bindungsorientierter Erziehung begeisterte uns sofort. Gleichzeitig überraschte es uns, dass so wenige Menschen aus unserem Umfeld Bescheid darüber wussten. So kam es, dass wir während unserer Elternzeit den Podcast «inBindung» starteten. Zu Beginn war dieser für unsere Familie, Freunde und interessierte Menschen gedacht. Mit einer so grossen Reichweite hätten wir nicht gerechnet.
Eltern, die mit ihrem Kind mehr in Verbindung kommen möchten, werden feststellen, dass sie sich dadurch auch mit sich selbst auseinandersetzen müssen. Als Christinnen beobachteten wir, dass dieser Prozess auch etwas mit unserer Gottesbeziehung und unserem Gottesbild macht.

NH: Welchen Zusammenhang seht ihr zwischen der bindungsorientierten Erziehung und dem christlichen Glauben?

Junita: Gott ist ein Gott der Bindung und er ist es, der diesen tiefen Wunsch nach Bindung in uns hineinlegte. Der bindungsorientierte Ansatz erklärt, wie unser ganzes Denken sowie Handeln nach Bindung ausgerichtet ist und was mit uns passiert, wenn wir nicht mehr in Verbindung sind. Besonders gerne betrachte ich das Prinzip von Gnade und Glaube. Für mich sind das die Kernprinzipien Gottes: Er glaubt an mich und sieht all das Gute sowie Schöne in mir, selbst wenn ich gerade nicht danach lebe. Durch die bindungsorientierte Erziehung versuchen wir, das gleiche mit unseren Kindern zu machen.
Einige Menschen würden sagen, dass ein Kind, das beispielsweise schlägt, sündig und egozentrisch ist. Im Hirn eines jeden Menschen muss ein Reifeprozess stattfinden, um sein Gegenüber zu sehen und auf dieses eingehen zu können. Dieser Entwicklungsprozess kann nur passieren, wenn Kindern eine sichere Bindung, Verständnis und Empathie vorgelebt wird. Übrigens stecken wir als Erwachsene immer wieder in diesem Reifeprozess. Das zu erkennen, lässt mich gnädiger und mitfühlender auf mein Kind schauen. Eigentlich bin ich nicht gross anders als mein Kind.

NH: Welche Herausforderungen seht ihr in diesem Erziehungsansatz?

Julia: Meiner Erfahrung nach kennen viele Menschen das Setzen von liebevollen Grenzen nicht. Oft ist nur das autoritäre, harte, strafende, drohende und mit Scham arbeitende System bekannt. Dadurch assoziieren viele, es gäbe keine Grenzen, wenn wir im Umgang mit unseren Kindern von Liebe, Gnade und Unreife sprechen. Mit unseren Werten möchten wir den Kindern Orientierung geben. Konkret heisst das, nicht gegen das Kind zu arbeiten, sondern auf seiner Seite zu bleiben. Alle Menschen tragen ihre Päckchen, Prägungen und Probleme mit und kennen es vermutlich, durch ihre eigenen Kinder getriggert zu werden. Es ist herausfordernd, aus dieser Spirale auszusteigen und dies braucht Zeit. Doch genau das wollen wir mit unserer Arbeit erreichen.

Junita: Wichtig zu verstehen ist, dass Bedürfnisse keine Wünsche sind. Die Grundbedürfnisse der Kinder zu erkennen, heisst nicht, jeden Wunsch zu erfüllen. Es ist ein stetiger Lernprozess, die Bedürfnisse der Kinder zu sehen. Erlebten wir als Kind die Führung unserer Bezugspersonen als schmerzhaft, ist der Wunsch logisch, das eigene Kind vor Führung beschützen zu wollen. Doch Kinder brauchen Eltern, die wie ein Leitwolf sind, sich um sie kümmern, eine Richtung anzeigen und Ruhe sowie Sicherheit vermitteln. Bindungsorientiert zu erziehen ist eine Haltung und bedingt, das eigene Herz für Heilung zu öffnen. Manchmal braucht innere Heilung mehr als einen Podcast oder Bücher. Coaches und Therapeuten können in diesem Prozess unterstützen, innere Knoten zu lösen.

NH: Vermutlich kennen es die meisten Eltern, an eigene Grenzen zu stossen. Wie geht ihr damit um?

Junita: Hilfreich finde ich, solche Situationen genau anzuschauen. Ich frage mich im Nachhinein jeweils, welche Gefühle in mir ausgelöst wurden. Das können Hilflosigkeit, Ohnmacht, Wut, Scham oder Traurigkeit sein. Eltern, die durch Wutausbrüche ihrer Kinder überfordert sind, können ihre Wut oft selbst nicht ausdrücken. Eltern, die keine Grenzen setzen können, erleben, dass das Kind nicht auf sie hört. Oder Eltern, welche die Traurigkeit ihrer Kinder schnell umlenken, haben selbst keinen Raum für ihre Traurigkeit. Kinder spiegeln unser Verhalten!
Im ersten Moment ist es einfacher, die Schuld aufs Kind abzuschieben. Doch die Verantwortung liegt bei uns als Eltern und nicht beim Kind. Der Schmerz, der durch ihr Verhalten in uns hochkommt, hat Heilungspotenzial. Das Schöne ist, dass Gott für mich auch als Erwachsene die Mama oder der Papa werden kann, die oder den ich selbst nie hatte. Durch Gott weiss ich, dass ich immer jemanden an meiner Seite habe, selbst wenn ich dies in meiner Kindheit nicht erlebte.

Julia: Bindungsorientierte Erziehung ist kein Schnellprogramm. Sie geht tiefer und fordert uns dazu auf, an uns selbst zu arbeiten. Natürlich gibt es auch andere Komponenten, die uns an die Grenzen bringen. Bei einem zu hohen Stresslevel oder Schlafmangel sind wir beispielsweise dünnhäutiger als sonst. Zudem stelle ich fest, dass viele Frauen denken, sie müssten alles allein hinkriegen und tun sich schwer damit, nach Hilfe zu fragen – geschweige denn diese anzunehmen.

NH: Was motiviert euch dazu, euer Herzensthema im christlichen Bereich nach aussen zu tragen?

Julia: Ich glaube, dass bindungsorientierte Erziehung die Art und Weise ist, wie Jesus seine Kinder erziehen würde. Für unser Team lag es somit auf der Hand, die beiden Komponenten zu verbinden. Wir wollen durch unseren Podcast aufzeigen, wie Jesus-orientiert die bindungsorientierte Erziehung ist.

Junita: Was ich im christlichen Kontext schwierig finde, ist, dass wir als Erwachsene oft kognitiv an einen Gott glauben, der uns liebt und für uns kämpft. Doch unsere Herzen glauben nicht daran. Der Grund, weshalb wir Gott nicht aus tiefstem Herzen vertrauen, liegt oftmals in der eigenen Kindheit. Wie habe ich meine Mama und meinen Papa wahrgenommen? Waren sie für mich da? Waren sie mein Schutzschild oder haben sie mich blossgestellt?

NH: Wie geht ihr mit Bibelstellen zu Züchtigung um? (Beispiel Sprüche 23, 13-14)

Junita: Für mich wird es problematisch, wenn einzelne Verse aus dem Gesamtkontext der Bibel gerissen werden. Gott ist ein Gott des Bundes bzw. der Bindung und das zieht sich durch die ganze Bibel. Er äussert seinen Wunsch klar nach Beziehung zu uns. Gottes Regierung basiert weder auf Druck noch Zwang. Er hat gezeigt, dass mit Liebe alles besiegt werden kann. Dazu kommt, dass Wörter wie «Rute» oder «züchtigen» in der Ursprache verschiedene Bedeutungen haben. In Deutsch suggerieren solche Worte, dass es okay sei, Kinder zu schlagen. Im Gesamtkontext der Bibel kristallisiert sich für mich jedoch heraus, dass der, welcher sein Kind nicht erzieht und begleitet, dieses nicht liebt. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich mein Kind schlagen soll! Um zu verstehen, wer Gott ist und welche Art er hat, zu erziehen, braucht es ein gesamtheitliches Grundverständnis der Bibel.

Julia: Die Lutherbibel ist diese, welche das Wort «Strafe» am meisten verwendet. Luther hat viele krasse Worte verwendet, die zu seiner Zeit normal waren. Heute ist klar, dass diese Worte noch durch fünf weitere Begriffe übersetzt werden könnten. Luther erzählte einst, dass seine Mama ihn wegen Kleinigkeiten blutig schlug. Mit dieser Aussage will ich keine Bibelübersetzungen degradieren. Aber ich finde, dass man das im Hinterkopf behalten darf. Unsere Prägung, Erziehung und Gesellschaft beeinflussen die Brille, mit der wir die Bibel lesen.

NH: Gibt es Momente, in denen ihr mit eurem Erziehungsstil aneckt?

Julia: Das erleben wir immer wieder. Manche Menschen, die unseren Podcast hören, schreiben uns empörte Nachrichten. Bei schriftlicher Kritik ist es einfacher, empathisch zu antworten. Zwischendurch gibt es auch herausfordernde Situationen in der Gemeinde oder Verwandtschaft. Unangenehm ist es für mich, wenn ich mit meinem Kind in einer emotional anstrengenden Situation bin und jemand von aussen dazu kommt.
In einem solchen Moment mache ich mir bewusst, dass diese Leute vermutlich vom Verhalten meines Kindes getriggert werden. Vielleicht durften sie sich dieses Verhalten selbst nicht erlauben. Natürlich ist es mein Part, das Kind nach draussen zu bringen und die Situation dort zu klären, wenn es beispielsweise während eines Gottesdiensts rumschreit. Ich trage auch meinen Mitmenschen gegenüber Verantwortung. Am Anfang unserer Elternschaft verunsicherte es uns stärker, von anderen Menschen kritisiert zu werden. Wir fragten uns, ob die anderen vielleicht doch Recht haben. Doch die Früchte, die wir inzwischen sehen, bestätigen uns in unserem Weg.

Junita: Ich sehe in solchen Momenten häufig eine persönliche Überforderung von Erwachsenen. Meine Hauptaufgabe als Mama ist, ein Schutzschild für mein Kind zu sein und es vor negativen Kommentaren zu schützen.

NH: Inwiefern hat «inBindung» euer persönliches Leben und Denken verändert?

Junita: Persönlich habe ich unheimlich viel Heilung erfahren. Durch die Kinder habe ich gemerkt, wie verletzt ich wirklich bin. Mir wurde klar, was bei mir hätte anders laufen müssen, um mich gesund entwickeln zu können. Ich konnte so viel nachholen, reifen und heilen – besonders in Gottes Gegenwart. Ich durfte ihn als Vater und Mutter kennenlernen, bei dem ich zur Ruhe kommen kann. Langezeit hatte ich Angst vor Gott, obwohl ich ihn immer liebte. Es ist so cool, nicht mehr im ständigen Kritikmodus zu sein und auf meine Kinder mit einem Blick voller Gnade, Mitgefühl und Verständnis zu sehen. In den letzten Jahren erlebte ich persönlich, worüber wir in der Arbeit von «inBindung» berichten. Auch wenn ich glaube, dass es sich dabei um einen lebenslangen Prozess handelt.

Julia: Obwohl ich selbst bindungsorientierte Erziehung erfuhr, habe ich durch «inBindung» noch viel mehr über Gottes Charakter erfahren. Ich bin Gott unheimlich dankbar dafür, dass er uns auf diesen Weg führte. Im Endeffekt hatte bzw. hat unsere Arbeit noch immer den grössten Effekt für uns persönlich.

NH: Wie kann man neben eurem Podcast von eurer Arbeit profitieren oder euch unterstützen?

Julia: Wir bieten Verschiedenes an wie einen Onlinekurs, das Buch «InBindung wachsen», die Affirmationskarten «Glaubensschätze», Einzelberatung oder Präsenzseminare. Der nächste Onlinekurs startet im Herbst 2024. Wir freuen uns immer sehr über Gebet, persönliche Feedbacks, Weiterempfehlung oder finanzielle Unterstützung. Wir sind unglaublich dankbar für all die Unterstützung, die wir erfahren und dass wir unsere Arbeit dadurch weiterführen können.

NH: Ich danke euch von Herzen für eure Offenheit und euer Erzählen. Ich empfinde eure Arbeit als sehr wertvoll. Für eure Arbeit wünsche ich euch, dass ihr noch viele Herzen berühren dürft und so die Zukunft unserer Kinder mitgestaltet.

Das Interview führte
Natascha Hürlimann
Leiterin Administration

April 2024