Meine Eltern hatten bereits drei Töchter, als meine Mutter infolge einer Angina an einer Herzmuskellähmung schwer erkrankte. Der Hausarzt schickte sie neun Monate lang zur Kur. Während dieser Zeit mussten ihre drei Kinder im Alter von zwei, fünf und sechs Jahren in ein Kinderheim, damit mein Vater weiterhin seiner strengen Berufsarbeit nachgehen konnte. Meine Mutter überlebte ihre schwere Krankheit zwar, aber sie war nach ihrer Rückkehr immer noch körperlich geschwächt. Dann geschah, was vom Standpunkt ihres Gesundheitszustandes nicht hätte passieren sollen: Sie wurde erneut schwanger – diesmal mit mir*.

In jener Zeit besuchten meine Eltern eine freikirchliche Gemeinde. Verschiedene Gemeindeglieder nahmen Anteil an den Ängsten und Sorgen der werdenden Mutter. Eine Frau kümmerte sich besonders um die verzwickte Situation, in der unsere Familie stand. Es handelte sich um eine ledige Säuglingsschwester, die kurze Zeit vorher pensioniert worden war. Weil sie sich nur schwer von ihren geliebten Säuglingen trennen konnte, suchte sie sich wieder eine neue Aufgabe. Sie bot sich meinen Eltern freiwillig an, ihnen nach meiner Geburt zur Seite zu stehen, indem sie für mich sorgen würde, wann immer Not an der Frau war. Praktisch sah das dann so aus, dass ich mich als Kleinkind oft bei Schwester Emmi (Name geändert) aufhalten durfte. Sie bewohnte mit ihren Geschwistern ein geräumiges Haus. Rund ums Haus gab es einen herrlich grossen Garten mit vielen Geheimnissen zum Entdecken für so eine kleine Erdenbürgerin.

Durch diese enorme Entlastung hatte meine Mutter wieder genügend Zeit und Kraft, sich um unseren Vater und meine grösseren drei Geschwister zu kümmern.

Mit der Zeit entstand eine enge Beziehung und meinerseits eine Bindung an diese feine Schwester Emmi. Sie war nicht angespannt wie meine Mutter und hatte genügend Zeit und Nerven, mich zu betreuen. Vor anderen Leuten stellte sie mich jeweils stolz als ihren letzten Pflegling vor. Sie liebte mich von Herzen und freute sich an mir. Im Gegenteil war sie für mich das allergrösste Glück, das ich in dieser Situation überhaupt hatte erleben dürfen!

«Mit ihrer angenehmen Gegenwart beruhigte sie mich und ich konnte dabei wieder neue Kräfte auftanken.»

Schwester Emmi hatte Humor und einen natürlichen, kindlichen und tiefen Glauben an Gott. Sie vermittelte mir ohne Worte, dass Gott alles gut erschaffen hat, und dass im Vertrauen auf ihn letztlich alles gut herauskommt. Sie strickte in ihrer Freizeit «Schlüttli» (Jäckchen) für ihre geliebten Säuglinge und tat dies mit einer solchen Leidenschaft, dass sie einmal zu mir sagte: «Ich lisme im Himmel no Schlüttli!» Wenn ich krank war, sass sie an manchen Nachmittagen strickend neben meinem Bett. Mit ihrer angenehmen Gegenwart beruhigte sie mich und ich konnte dabei wieder neue Kräfte auftanken.

Während meine Eltern infolge ihrer hohen Arbeitsbelastung nervlich oftmals am Anschlag waren, entschärfte sich durch Schwester Emmis Gegenwart, durch ihre Ruhe und ihren Humor manche heikle Situation. Gleichzeitig war sie sehr taktvoll und hütete sich davor, sich in unsere familiären Situationen einzumischen. Wenn sie gewisse Dinge mit Sorgen beobachtete, betete sie im Stillen für uns. Dieser gute, von Hoffnung erfüllte Geist half mir über viele Schwierigkeiten hinweg. Er äusserte sich nicht in vielen Worten, sondern in einer vortrefflichen, feinen Haltung.

In wichtigen Situationen sprach Schwester Emmi ermutigend und wegweisend in mein Leben hinein. In den Teenagerjahren zweifelte ich z.B. oft an mir selbst und meinen Fähigkeiten. Als es um die Berufswahl ging, erhielt ich von Schwester Emmi eine Karte mit den Worten: Du bist begabt, werde Lehrerin! Ich war als Kind und als Jugendliche derart schüchtern, dass ich mich ohne den prägenden Zuspruch von Schwester Emmi und ihren GLauben an mich niemals getraut hätte, einen solch herausfordernden Beruf zu ergreifen. Ich liebte Kinder über alls und fand es schön, denjenigen Kindern ein Stück weit Mutter sein zu dürfen, die aus irgendeinem Grund nicht diejenige Mutterliebe erhalten konnten, die sie benötigt hätten.

Eine Zeitlang hätte ich begreiflicherweise gerne eine eigene Familie mit eigenen Kindern gehabt. Als ich aber erkannte, dass Gott mir eine aussergewöhnlich grosse Liebe zu den Kindern ans Herz gepflanzt hatte, füllte mich die Arbeit mit ihnen voll aus. Zusätzlich war ich eingebettet in ein grosses Lehrerteam. Ich fühlte mich nicht allein.

Als ich einmal darüber nachsann, warum meine ledigen Kolleginnen im Unterschied zu mir innerlich fast verbluteten, weil sie keinen pasenden Partner finden konnten, entdeckte ich: Mein Lebensplan war durch das fantastische Vorbild meiner geliebten Schwester Emmi vorgespurt. Sie war eine alleinstehende Frau und trotzdem glücklich. Sie engagierte sich stets für ihre Mitmenschen und hatte eine Lebensaufgabe, die sie erfüllte. Sie pflanzte mir eine aussergewöhnlich grosse Liebe zu Kindern und eine grosse Freude an ihnen ins Hrz, indem ich diese Liebe jahrelang selber durch sie empfangen durfte. Als ich 15 Jahre alt war, starb meine geliebte Schwester Emmi.

Ich durfte in meinem späteren Leben einen Teil des grossen Segens, der durch Schwester Emmi in mein Leben strömte, an andere bedürftige Kinder weitergeben. Das am eigenen Leib Erlebte gab mir zudem Hoffnung, Mut und Motivation, mich für gute Lösungen einzusetzen, wenn fremde Kinder aus irgendeinem Grund unter für sie schwierigen Umständen aufwachsen mussten. Etwas hat mich das Erlebte auch noch gelehrt: Es lohnt sich, in schwierigen Situationen nicht so rasch aufzugeben oder sich zu einer Kurzschlusshandlung hinreissen zu lassen. Wenn wir darauf vertrauen und daran festhalten, dass sich trotz aller widriger Umstände eine gute Lösung zeigen kann, besteht mehr Hoffnung, als wir meistens für möglich halten. Gott hilft uns nämlich.

*Name der Redaktion bekannt